Hand aufs Herz, wer kennt sie nicht? All die tollen Ideen, die unvollendet in der Schublade liegen, in verschiedenen Ordnern auf dem Computer oder in einem Stapel Notizbücher verstreut. Einige sind nur eine krude Sammlung an Notizen, andere dagegen halbgeschriebene Bücher. Ich gebe es zu, ich habe auch ziemlich viele davon, besonders von den Notizen, wo ich mich bei einigen mittlerweile frage, was ich mir dabei gedacht habe. Aber sie alle sollten einmal DER Bestseller werden, der mir ewigen Ruhm und ein üppig gefülltes Bankkonto sichert.
Haben sie aber alle nicht, sie sind nämlich nie fertig geworden.
Aber ich muss doch fertig werden!
Mit der Zeit habe ich gelernt, wie wichtig es ist, ein Projekt auch abzuschließen. Kennst du bestimmt auch, es steht in den meisten Schreibratgebern und überall im Internet. Fertig werden ist wichtig. Außerdem fühlt es sich toll an, mit einem Buch fertig zu werden. Und vor allem ist es notwendig, um auch etwas veröffentlichen zu können. Klar, nicht fertige Dinge lassen sich nicht ganz so gut veröffentlichen.
Mit der Zeit wurde mir das immer klarer, ich wurde mit Geschichten fertig, habe angefangen, zu veröffentlichen und dabei passierte es ganz still und heimlich: langsam aber sicher habe ich mich für den Inhalt meiner Schublade geschämt. Für all die unfertigen Texte. Für all die Zeit, die ich in Geschichten gesteckt habe, die ich dann doch nicht fertig geschrieben habe.
Also habe ich die Schublade zugemacht, die Notizbücher und die Ordner auf dem Computer ignoriert. Was ich angefangen habe zu schreiben, musste auch fertig werden. Teilweise hat das geklappt. Teilweise nicht und dann habe ich mich doppelt geschämt und wie eine Versagerin gefühlt. Wie eine, die es nicht schafft, fertig zu werden.
Dieses eklige Gefühl, dieses Zweifelmonster hat mich auch dann noch begleitet, als ich längst hauptberuflich Dinge fertig gestellt und veröffentlicht habe. An manchen Tagen sitzt es immer noch hämisch grinsend im Ordner mit den Romananfängen, die teilweise nie über die ersten Seiten hinausgekommen sind. Zum Glück ist es mittlerweile nicht mehr ganz so groß.
Ich habe weiter geschrieben, einiges darüber gelernt, wie ich es schaffe, einen Text fertig zu schreiben und nicht unterwegs zu versacken, veröffentlicht… Und obwohl das alles gegen das Zweifelmonster hilft, habe ich mich trotzdem zwischendurch für all die angefangenen Geschichten geschämt. Einige waren mir mittlerweile auch ziemlich peinlich, eine komplizierte Liebesgeschichte, die zufälligerweise in meinem Studienort spielte, eine mutige Kriegerprinzessin namens Xenia…
Ein Trainingsfeld
Aber mit der Zeit kam mir eine Erkenntnis, die so simpel ist, dass ich sie zuerst gar nicht glauben wollte: ich habe beim Schreiben all dieser unvollendeten Dinge etwas gelernt. Meine Ausdrucksweise erprobt, den Umgang mit Diven, pardon, Hauptfiguren trainiert, Adjektive gezähmt und mit Satzlängen und Wortreihenfolgen gespielt. Ich habe GELERNT! Schreiben geübt.
Und verdammt, seit wann ist das ein Grund, sich zu schämen?
Nein, ich bin keine Versagerin und du bist es auch nicht. Ja, da liegen vielleicht 20 und mehr unfertige, angefangene Geschichten in deiner Schublade. Und? Die Ideen und angefangenen Bücher, um die es dir wirklich leid tut, die du immer noch fertig schreiben willst, mit denen kannst du dich nochmal in Ruhe hinsetzen. Dann kannst du dir ohne Druck alles anschauen und überlegen, wie du sie retten kannst und ob du das auch wirklich willst. Und die anderen … nimm sie als das, was sie sind an: Übungen.
Denn genau das sind sie. Du hast an ihnen geübt. Schreiben geübt, Geschichten erzählen gelernt. Und das ist großartig und dafür darf ich, darfst du, dürfen wir auch Texte für die Schublade haben. Dafür müssen wir uns nicht schämen.
Ja, natürlich ist fertig werden wichtig. Aber Scham für die unvollendeten Texte hilft auch nicht. Spitzensportler trainieren jeden Tag, Musiker üben, auch schreibende Menschen brauchen ihr Trainingsfeld und dazu gehören auch die unvollendeten Texte in der Schublade. Manches davon stellt sich bei genauerer Betrachtung sogar doch noch als vollendungswürdig heraus (meine Kriegerprinzessin eher nicht), anderes hilft gegen Zweifelmonster. Aber in jedem Fall hast du mit ihnen trainiert, eine Geschichte zu erzählen.